Im Zeitalter fast uneingeschränkt abrufbarer Informations-Möglichkeiten, daraus folgender grenzenloser Beliebigkeit, sind Markierungs-Punkte, Akzente notwendig, um Orientierungshilfe in Qualität und Quantität Sinn zu geben. Die Suche nach dem "wahren Klang", ein Anliegen spätestens seit den Bemühungen der (historisch informierten) Aufführungspraxis, bewegt die sowohl aktiv wie auch passiv beteiligten Gemüter.
Möglichst viele Parameter zu vereinen, die dazu beitragen, einem solchen Ideal nahe zu kommen, beschäftigt Instrumentenbauer und praktizierende Musiker. Speziell im Orgel-Bereich hat die sog. Orgelbewegung in den 20ger Jahren des 20. Jahrhunderts, neu aufgelegt nach dem 2. Weltkrieg, zwar bahnbrechende Vorarbeit geleistet, aber in ihrer Glorifizierung der Barockorgel, besonders des Schnitgerschen Typs, eine nicht hilfreiche Polarisierung betrieben. Heute ist man geneigt, einer sachlicheren Differenzierung Raum zu geben. Warum eine Barock-Orgel?
Die Einsicht, daß eine Universal-Orgel heute schlichtweg nicht existieren kann, hat sich längst durchgesetzt. Jede Musik möchte am liebsten mit den Klangmitteln ihrer eigenen Entstehungszeit wiedergegeben sein, zumindest näherungsweise. Reger auf einer Renaissance-Orgel ist genauso sinnleer wie Praetorius auf einer romantisch-symphonischen Orgel.
Eine stilistisch definierte Orgel mag den Nachteil der Einseitigkeit in sich tragen, aber genau darin liegt der Reiz, der Farbigkeit und Detail-Nuancierung, dadurch wiederum "variatio" fördert. Nun verhält es sich so mit der sog. "Barock-Orgel", unberücksichtigt der näheren Eingrenzung gerade im Vergleich zu bildender Kunst, Architektur und Dichtung, daß sie eigentlich über ihre vermeintlich eng gesetzten Grenzen hinaus vielfältiger einsetzbar ist.
Das Barock ist und bleibt nun einmal in der Geschichte der Orgel (klanglich wie auch technisch) und ihrer Musik (kompositorisch und Gattungs-pluralistisch) ein Kulminationspunkt, zu dem hin eine crescendierende Entwicklung stattfand, die eine lang anhaltende decrescendiernde Nachwirkung hatte. Möglicherweise nur noch einmal im späten 19. Jahrhundert (wenn auch mit anderer Intention: Grundtönigkeit, Dynamik, Symphonik des romantischen Orchesters) mag eine ähnliche Entwicklung erreicht gewesen sein.
Eine reichhaltig ausgestattete Barockorgel jedenfalls enthält meist – konservativ im positiven Sinn – sowohl rückwärts gewandte Klänge (z.B. kurzbechrige Zungen und obertönige Aliquoten) wie auch Visionen in die Zukunft (z.B. Streicher und überblasende Register).
Ein solcherart allumfassender Typ ist über einen längeren Zeitraum vorherrschend gewesen.
Die barocke Orgel lebt von der Vielfarbigkeit sowohl der (Spät-)Renaissance, einbezogen das Vocale Ideal in der Gesanglichkeit der Prinzipale, als auch des hochbarocken Instrumentariums, was sich in vielen Registerbenennungen als Nachempfindungen diverser Ensemble- und Solo-Instrumente widerspiegelt. Darum erlaubt eine klug disponierte Barockorgel, abgesehen von ihrer Kompatibilität mit zeitgleichem Repertoire, ohne weiteres die Darstellung früherer Stile bis hin zu Musik des Rokoko und Frühromantik.
Diese Multifunktionalität macht die Attraktivität einer Barockorgel aus, die Restaurierungen, Rekonstruktionen und Neubauten ein Motivations-Anschub sein könnte.
Prof. Klaus Eichhorn, Hochschule für Künste Bremen, 2016